Selb 1920

Porzellan Schaufenster 1950
Porzellan Schaufenster 1950

Selb – Aufstieg, Glanz und Schattenseiten der „Porzellanstadt“

Um 1900 entwickelte sich Selb zu einem der weltweit bedeutendsten Zentren der Porzellanindustrie. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand eine enorme Dichte an Fabriken: Rund ein Dutzend Betriebe beschäftigten Tausende Arbeitskräfte in der Stadt und im Umland. Namen wie Rosenthal, Heinrich, Hutschenreuther oder Krautheim & Adelberg standen für Qualität „Made in Selb“ – und wurden in alle Welt exportiert.
Doch hinter dem Exporterfolg standen nicht nur Fortschritt und gestalterischer Anspruch, sondern auch harte Arbeitsbedingungen und soziale Belastungen. Was mit Carolus Magnus Hutschenreuthers Gründung 1814 im nahegelegenen Hohenberg begann, wuchs sich zu einem industriellen Cluster zwischen Coburg und Weiden aus. Bald war Nordbayern europäischer Spitzenreiter der Porzellanherstellung – mit Außenstellen in Böhmen, Schlesien und Sachsen.
Persönlichkeiten wie Philipp Rosenthal prägten nicht nur das unternehmerische, sondern auch das gesellschaftliche Leben. Bereits 1926 warb Rosenthal mit dem Slogan: „50 internationale Künstler arbeiten für Rosenthal“ – Ausdruck einer weitreichenden Verknüpfung von Design, Handel und Technik.
Die Mitarbeitenden identifizierten sich stark mit „ihrem“ Werk, lebten in Werkswohnungen, engagierten sich gewerkschaftlich und pflegten ein intensives Miteinander. Gleichzeitig war der gesundheitliche Preis hoch: Der feine quarzhaltige Staub führte bei vielen zu schweren Lungenerkrankungen. Schlechte Wohnverhältnisse und hoher Alkoholkonsum verschärften das Problem. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter starben früh – die durchschnittliche Lebenserwartung lag mitunter bei unter 50 Jahren.
Ein exemplarisches Beispiel für diese Entwicklung ist die Geschichte der Porzellanfabrik Jakob Zeidler & Co. im Stadtteil Plößberg. Nach dem Anschluss an das Eisenbahnnetz 1865 nahm Zeidler 1867 den Betrieb auf – ursprünglich sollte es nur eine Gaststätte werden. Doch schon wenige Jahre später florierte die Produktion. Rohstoffe kamen per Bahn, das Personal setzte sich aus regionalen Hilfskräften und Facharbeitern aus Thüringen, Sachsen und Böhmen zusammen. Ab 1879 entstanden erste Werkswohnungen.
Doch wirtschaftliche Einbrüche trafen die Familien hart – soziale Absicherung war kaum vorhanden. Der Erste Weltkrieg stoppte den Aufschwung abrupt: Männer wurden eingezogen, Exporte fielen weg, Material und Kohle wurden knapp. 1917 verkaufte die Eigentümerfamilie das Werk aus wirtschaftlicher Not an Philipp Rosenthal.
Rosenthal baute das Werk grundlegend um – zu einer burgartigen Industrieanlage. 1918 führte er das bis heute bekannte Service „Maria Weiß“ ein. Steingut und Elektroporzellan erweiterten ab 1926 das Sortiment, die Belegschaft wuchs auf über 900 Mitarbeitende. Doch die Weltwirtschaftskrise beendete das Wachstum abrupt: In den 1930er-Jahren folgten Kurzarbeit, Entlassungen und Stillstände.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entfachte der Wiederaufbau neuen Optimismus. Die Nachfrage war riesig, und Rosenthal – nun unter der Leitung von Philip Rosenthal junior – setzte auf visionäre Entwürfe. Designer wie Tapio Wirkkala oder Björn Wiinblad entwickelten wegweisende Serien für die neue Rosenthal Studio-Line.
Trotz künstlerischer Erfolge war der Standort Plößberg wirtschaftlich nicht mehr tragfähig. Die Produktion wurde an den moderneren Standort am Rothbühl verlagert. Das alte Werk verfiel über Jahre, Teile brannten 1984 ab. Alteisenhändler entfernten die Metallreste, einige Hallen wurden abgetragen.
1987 übernahm die Stadt Selb das Gelände. Das Ziel: die Umwandlung in ein Europäisches Industriemuseum für Porzellan und Technische Keramik – als Erinnerung an eine Epoche, in der Selb Industriegeschichte schrieb. Doch die Geschichte der Porzellanstadt lebt weiter – in Designklassikern, Sammlerstücken und der Identität einer Region, die einst das weiße Gold Europas prägte.

Selb – Themenportal & Verknüpfungen

Vier Einstiege in die Stadt- und Industriegeschichte: von den Anfängen über die Porzellanblüte bis zu den 1920ern und den politischen Spannungen der frühen 1930er-Jahre.

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porzellanselb

Ich kaufe Porzellan überwiegend von Rosenthal und KPM von 1950 bis 1980 Studio-Line, Hubert Griemert, Tapio Wirkala, Victor Vasarely, Grießhaber, Otto Piene, Wolf Karnagel und viele mehr.