Rosenthal-Zweigwerk Neustadt bei Coburg
Ein kleines Kapitel der Rosenthal-Geschichte zwischen Kunstkeramik, Modeexperimenten und einer kurzen Episode von Hedwig Bollhagen
Einleitung
Das Rosenthal-Zweigwerk in Neustadt bei Coburg wurde 1926 gegründet und bildete ein kleines, aber interessantes Kapitel in der Geschichte der Porzellanmarke Rosenthal. Während das Hauptwerk in Selb für hochwertige Service, Geschirrserien und die Zusammenarbeit mit internationalen Designern bekannt war, verfolgte Rosenthal mit dem Zweigwerk in Neustadt das Ziel, neue Bereiche in der Keramikproduktion zu erschließen. Dabei standen insbesondere Kunstkeramik und dekorative Keramikwaren im Vordergrund.
Gründung und Produktionsprogramm
Mit der Errichtung des Zweigwerks 1926 wollte Rosenthal seine Aktivitäten diversifizieren. Das Werk war vergleichsweise klein, sollte jedoch flexibel auf neue Marktbedürfnisse reagieren. Produziert wurden Vasen, Schalen, Gebrauchsgeschirr und dekorative Figuren. Ein Teil der Produktion bestand aus eher schlichten Steingutartikeln, die auf eine breite Käuferschicht zielten. Daneben entstanden jedoch auch Arbeiten mit künstlerischem Anspruch, insbesondere Keramikfiguren nach Entwürfen bekannter Bildhauer wie August Gaul, Gerhard Schliepstein oder Milly Steger.
Die Bandbreite reichte von modischen Experimenten wie sogenanntem „Metallporzellan“ bis zu dekorativen Serien, die sich durch farbige Spritzdekore auszeichneten. In der Fachwelt wurde diese Mischung ambivalent aufgenommen: Einerseits wurde anerkannt, dass Rosenthal versuchte, die moderne Kunstkeramik stärker in sein Programm einzubinden. Andererseits galten viele Produkte als modische Spielerei oder als wenig eigenständig, da sie zu sehr auf kurzfristige Trends reagierten.
Hedwig Bollhagen und ihre kurze Tätigkeit
Besondere Aufmerksamkeit erfährt das Werk durch die kurze Beschäftigung von Hedwig Bollhagen (1907–2001) im Herbst 1931. Bollhagen, die später die berühmten HB-Werkstätten in Marwitz gründete, suchte zu dieser Zeit nach beruflicher Orientierung. Ihre Station im Rosenthal-Zweigwerk Neustadt erwies sich jedoch als ernüchternd.
In der Kunstkeramikabteilung war sie nicht in der Lage, eigene kreative Ideen einzubringen. Vielmehr wurde sie angewiesen, Entwürfe anderer Werkstätten nachzuahmen, jedoch so, dass keine rechtlichen Konsequenzen drohten. Überliefert ist der Satz eines Vorgesetzten: „Es muß so gemacht werden, daß der Rechtsanwalt uns nicht auf den Kopp kommt.“ Diese Arbeitsweise war für Bollhagen frustrierend, da sie weder ihre gestalterische Freiheit nutzen konnte noch eine echte künstlerische Weiterentwicklung möglich war.
Konflikte mit den Haël-Werkstätten
Der Hintergrund dieser Arbeitsweise lag in einem Konflikt zwischen Rosenthal und den Haël-Werkstätten für künstlerische Keramik in Marwitz. Ein ehemaliger Betriebsmeister war von Haël zu Rosenthal gewechselt und hatte dabei Formen und Dekore mitgenommen, die in Neustadt nahezu identisch weiterproduziert wurden. Dies führte zu einem Rechtsstreit, da die Haël-Werkstätten ihre Entwürfe geschützt sehen wollten.
Der Vorwurf der Plagiatsnähe überschattete die Arbeit des Zweigwerks in Neustadt und machte deutlich, dass Rosenthal hier weniger auf Innovation setzte als vielmehr auf das schnelle Aufgreifen populärer Formsprachen. Für eine junge Gestalterin wie Hedwig Bollhagen war diese Erfahrung ernüchternd, bestärkte sie jedoch in dem Entschluss, später eine eigene Werkstatt mit klarer künstlerischer Handschrift aufzubauen.
Zwischen Kunst und Massenproduktion
Das Werk in Neustadt bewegte sich stets zwischen zwei Polen: dem Wunsch, künstlerisch anspruchsvolle Keramik anzubieten, und der Realität einer stärker kommerziell orientierten Produktion. So entstanden neben Figuren namhafter Künstler auch Massenprodukte, die eher auf den schnellen Absatz zielten. Diese Doppelstrategie führte dazu, dass das Werk nie die Reputation der Hauptwerke in Selb erreichte, aber dennoch Teil von Rosenthals Versuch war, im Bereich Kunstkeramik Fuß zu fassen.
Besonders die Spritzdekore und das sogenannte „Metallporzellan“ waren Beispiele für den Versuch, neue Oberflächenwirkungen zu erzielen und den Zeitgeschmack der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre zu bedienen. Kritiker bemängelten jedoch, dass diese Produkte keine nachhaltige gestalterische Substanz hatten und eher Modeartikel darstellten.
Abgrenzung
Oftmals kommt es zu Verwechslungen: Das Rosenthal-Zweigwerk in Neustadt bei Coburg ist nicht identisch mit dem heutigen Mercer Rosenthal Werk in Rosenthal am Rennsteig (Thüringen). Während letzteres ein Zellstoffwerk ist, das keinerlei Bezug zur Porzellanproduktion hat, handelte es sich beim Neustadter Werk um einen echten Teil der Rosenthal-Porzellangeschichte.
Bedeutung und Nachwirkung
Obwohl das Werk nur wenige Jahre aktiv war und bald wieder stillgelegt wurde, bleibt es ein bemerkenswerter Teil der Rosenthal-Historie. Es zeigt die Bereitschaft des Unternehmens, auch kleinere, experimentellere Produktionsstätten zu betreiben. Für Hedwig Bollhagen war es eine kurze Episode, die jedoch Rückschlüsse auf die Arbeitsweise großer Unternehmen im Umgang mit Kunstkeramik erlaubt.
Das Rosenthal-Zweigwerk Neustadt steht damit exemplarisch für die Spannungen der Zeit: zwischen Industrie und Handwerk, zwischen künstlerischem Anspruch und kommerzieller Verwertbarkeit, zwischen Innovation und Nachahmung. Auch wenn es nicht den Erfolg anderer Rosenthal-Standorte erreichte, bleibt es durch die Verbindung zu Hedwig Bollhagen und die dokumentierten Auseinandersetzungen mit den Haël-Werkstätten ein wichtiger Baustein in der Geschichte der deutschen Keramikindustrie.
Timeline – Rosenthal-Zweigwerk Neustadt
- 1926 – Gründung des Zweigwerks in Neustadt bei Coburg.
- 1931 – Kurze Tätigkeit von Hedwig Bollhagen in der Kunstkeramikabteilung.
- Rechtsstreit mit den Haël-Werkstätten wegen Form- und Dekorkopien.
- Spätere Stilllegung; das Werk bleibt Teil der Rosenthal-Unternehmensgeschichte.