Geschichte der Keramik im 20. Jahrhundert
Zwischen Bauhaus, Reformbewegung und industrieller Moderne: Keramik im 20. Jahrhundert als Brücke zwischen Handwerk, Design und Kunst.
Einleitung
Die Geschichte der Keramik im 20. Jahrhundert ist geprägt von einer bisher nicht gekannten Vielfalt. Einerseits griffen Künstler und Werkstätten auf jahrhundertealte Techniken zurück – das Drehen auf der Scheibe, Glasuren mit Engoben, Salzbrand oder Majolika. Andererseits schuf die Moderne eine radikale Neuausrichtung: Keramik wurde als Medium künstlerischer Avantgarden verstanden, als Teil der Architektur, als Alltagsgeschirr und zugleich als autonome Kunstform. Von der Bauhaus-Töpferei in Dornburg bis zur Rosenthal Studio-Line lässt sich ein Spannungsbogen ziehen, der zeigt, wie sehr die Keramik zwischen Tradition und Innovation vermittelt hat.
Bauhaus und Reformbewegung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmten die Reformbewegungen die Keramiklandschaft. Werkstätten wie Kandern, Velten-Vordamm oder die Majolika Karlsruhe verbanden handwerkliche Traditionen mit neuen Formsprachen. Mit der Gründung des Bauhauses erhielt die Keramik einen radikalen Impuls: In Dornburg entwickelten Gerhard Marcks, Max Krehan und Theodor Bogler ab 1920 das Konzept der seriellen Gebrauchskeramik. Klare Zylinder, Kegel und reduzierte Dekore sollten alltagstaugliche, stapelbare Serien ermöglichen. Diese Orientierung an Funktionalität und Typisierung prägte Generationen.
Zugleich blieb das Bauhaus nicht ohne Widerstände. Während die Avantgarde die „Schönheit des Einfachen“ proklamierte, kritisierten Konservative die Abkehr von Dekor und Ornament. Dennoch: Die Bauhaus-Keramik in Dornburg wurde zum Prototyp einer Moderne, die den Alltag ernst nahm und das Handwerk in den Dienst einer sozialen Gestaltung stellte.
Keramik in der NS-Zeit
Die Jahre zwischen 1933 und 1945 waren von Bruch und Gleichschaltung geprägt. Bauhaus-Ideen galten als „entartet“, viele Keramiker emigrierten oder wurden verfolgt. Werkstätten wie Dornburg blieben bestehen, wurden jedoch ideologisch „umgelenkt“: Statt funktionaler Sachlichkeit verlangte das Regime „völkische Bodenständigkeit“. Keramiken mit rustikalen Glasuren, floralen Dekoren und vermeintlich „volkstümlichen“ Formen dominierten. Gleichzeitig überdauerte technisches Wissen – Drehen, Brennen, Maßketten – als stilles Reservoir. Nach 1945 konnte daher vergleichsweise schnell an die Moderne angeknüpft werden.
Nachkrieg und Studiokeramik
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen Zerstörung und Neubeginn nebeneinander. Viele Töpfereien begannen mit schlichter Gebrauchskeramik, doch bald setzte eine künstlerische Neuorientierung ein. Die Studiokeramik – kleine Werkstätten, die experimentelle Gefäßformen, Glasuren und Unikate hervorbrachten – gewann an Bedeutung. Namen wie Richard Bampi, Jan Bontjes van Beek oder Horst Kerstan stehen für diese Bewegung. Ihre Arbeiten verbanden handwerkliche Präzision mit künstlerischer Autonomie und wurden zu gesuchten Sammlerstücken.
Industriekeramik und Design
Parallel zur Studiokeramik entwickelten die großen Manufakturen neue Strategien. Rosenthal mit seiner Studio-Line setzte ab den 1950er Jahren auf die Zusammenarbeit mit internationalen Künstlern und Designern – von Tapio Wirkkala über Bjørn Wiinblad bis zu Hundertwasser. So entstanden Serien, die Alltagsgeschirr mit künstlerischem Anspruch verbanden. Auch die KPM Berlin brachte mit Entwerfern wie Hubert Griemert Serviceformen wie Krokus hervor, die zwischen Funktionalität und Eleganz balancierten.
Die 1960er- und 70er-Jahre sahen zudem die Integration von Keramik in Architektur und Kunst im öffentlichen Raum: Wandreliefs, keramische Fassadenplatten oder Kunst-am-Bau-Projekte machten Keramik zum Medium der Stadtgestaltung.
Internationale Vernetzung
Die Keramik des 20. Jahrhunderts war international verflochten. In Frankreich wurde Vallauris zum Zentrum, wo Künstler wie Pablo Picasso und Gilbert Portanier die mediterrane Tradition mit moderner Kunst verbanden. In Skandinavien entwickelten Firmen wie Arabia Finnland eine Designkeramik von globalem Einfluss. Japanische Töpfer wie Shoji Hamada brachten das Konzept der „Mingei“-Bewegung – die Würde des einfachen Gebrauchsgegenstands – in den internationalen Diskurs ein. Deutsche Keramiker wie Beate Kuhn rezipierten diese Einflüsse und trugen zugleich zur globalen Anerkennung europäischer Studiokeramik bei.
Fazit
Die Geschichte der Keramik im 20. Jahrhundert zeigt, wie eng Handwerk, Kunst und Industrie miteinander verflochten sind. Von den Bauhaus-Experimenten in Dornburg über die Studiokeramik der Nachkriegszeit bis zu den industriellen Innovationen von Rosenthal und KPM spannt sich ein Bogen, der bis heute das Bild moderner Keramik prägt. Keramik war im 20. Jahrhundert nicht nur Gebrauchsware, sondern Ausdruck kultureller Identität, künstlerisches Experiment und industrielles Design zugleich – ein Erbe, das in Museen, Werkstätten und Sammlungen weltweit weiterlebt.
Timeline – Keramik im 20. Jahrhundert
Wichtige Etappen der Keramikgeschichte zwischen 1900 und 2000
Verwandte Themen – Moderne Keramik & Keramiker
Timeline-Wall – Keramik 1850–Heute
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1832
Gründung Wächtersbacher Steingutfabrik.
1845
Start Werkstatt Hermann Mutz, Hamburg-Altona.
1854
Geburt J. J. Scharvogel.
1864
Geburt Max Laeuger (Kandern/Karlsruhe).
1867
Geburt Richard Mutz (Altona).
1895
Gründung Tonwerke Kandern (Baden).
1901
Gründung Majolika-Manufaktur Karlsruhe.
1904
Keramische Kunstwerkstatt Richard Mutz (Berlin) gegründet.
1915
Mutz leitet Majolika Karlsruhe (bis 1919).
1919
Gründung des Bauhauses (Weimar).
1920
Bauhaus-Töpferei Dornburg – Lindig/Typenware.
1923
Haël-Werkstätten (M. Heymann) in Marwitz.
1925
Werkstatt Richard Bampi (Kandern); Burg Giebichenstein (Friedlaender).
1926
Geburt Gilbert Portanier (Cannes).
1929
Oranienburger & Oberlausitzer Werkstätten aktiv.
1930
HB-Werkstätten (Marwitz) – Fortführung Haël-Tradition.
1931
Richard Mutz verstirbt (Gildenhall).
1937
O. D. Douglas-Hill – Goldmedaille Paris.
1948
Vallauris: „Le Triptyque“ (Portanier/Capron/Voltz).
1955
Douglas-Hill zurück in Berlin; 1958 „Lehrflug“ (Hansaviertel).
1970er
Rosenthal Studio-Line (Hundertwasser, Vasarely, Dalí, Portanier).
1985
Marguerite Friedlaender/Wildenhain verstirbt (USA).
2006
Schließung Wächtersbacher Steingutfabrik.
Heute
Sammlungen, Auktionen, Forschung – starke Marktpräsenz.