Selb ist eine Porzellanstadt – Selb wurde eine „Regenbogenstadt“ für einen Tag. Das war am 3. November 1973, als ein Wandbild von 195 mal 18 Metern Grösse mit einem Regenbogenfest „enthüllt“ wurde. Otto Piene hatte die Vorlage zu dieser Wandmalerei geschaffen, verschieden gewölbten Regenbögen an der langen Fassade eines Fabrikgebäudes der Firma Rosenthal. Voreilig wäre es, gleich zu sagen, die Kunst gäbe nur die Dekoration zu einer „miesen Arbeitsbedingung“ ab. Denn man hat in Selb zuvor, in den letzten Jahren, viele Anstrengungen unternommen, aus der Staubund Qualmstadt eine saubere Stadt zu machen, etwas, das durch die Umstellung von Kohle auf Gas gelang; auch der grosse Schrecken der Porzelliner und Glasmacher, die Staublunge — nämlich durch Quarzstaub — ist gebannt; und dann hat das sogenannte Rosenthal-Modell eine Vermögensbeteiligung der Arbeitnehmer eingeführt. Also konnte man nun daran gehen, die Umwelt visuell freundlicher, also farbiger zu machen.
Für Otto Piene ist der Regenbogen seit den Zero-Jahren ein Grundthema seiner Kunst. Immer wieder hat er Regenbögen gemalt, vorgeschlagen, gedruckt, ausprobiert, ausgeführt. Sein spektakulärster Regenbogen wurde bei der Abschlussfeier der Olympischen Sommerspiele in München realisiert, fünf mit Helium gefüllte, weit sich spannende Plästikschläuche. Der Regenbogen ist für ihn nicht nur ein visuelles, nicht nur ein geistiges und emotionales Phänomen, sondern mehr und mehr ein physisches, ein allgemeines, universelles, das jeden angeht“. So waren in Selb die .Schulklassen aufgefordert worden, Regenbogen zu machen; beim Regenbogenfest wurden dann über tausend von ihnen in Zeichnungen vorgestellt, zusammen eine Art von Lexikon der Phantasie, der Kritik und der Aufmerksamkeit von Kindern. Solche Aktivitäten helfen, milieubedingte Nachteile der Arbeiterkinder wie mangelnden Ansporn, kaum entwickelte Kreativität und dergleichen auszugleichen; Philip Rosenthal hat im übrigen für sie eine Stiftung errichtet, der nach seinem Tod die Hälfte seines Vermögens zugute kommen soll.
Zum Regenbogenfest in Selb wurden unter vielem anderen Siebdrucke Pienes im Super- Format von 200 mal 130 Zentimetern (aus der Ingolstädter Druckerei Herbert Geier, Verlag Josef Keller) vorgestellt, auch ein hervorragender Film der jungen Münchener Regisseurin Murri Seile über den Olympia-Regenbogen uraufgeführt. Die Wandmalerei selbst, der bleibende Teil des Regenbogenfestes, gibt einem Industriegebäude, das zuvor von einer bemerkenswerten Hässlichkeit war, Gliederung, Farbe und die Möglichkeit, nunmehr in die Stadt hineinzuwachsen: Ein Fremdkörper ist zu einer Attraktion geworden, zu einem Beispiel jener Umwelt-Kunst, für die Piene vor kurzem als Professor an das MIT in Cambridge (Massachusetts) berufen wurde.
Friedensreich Hundertwasser
Die dritte Haut oder Eine Fabrik schliesst Frieden mit der Natur
1928 in Wien als Friedrich Stowasser geboren. Seinen jetzigen Namen (Struss. Hundert) gibt er sich 21jährig in Paris. 1949-1951 Aufenthalte in Italien, Frankreich und Nordafrika. 1959 zieht er als Gastdozent der Kunsthochschule Hamburg die endlose Liebe. Er arbeitet seit 1953 hauptsächlich in Paris, seit 1957 in der Normandie, seit 1962 in Venedig, seit 1968 auf dem Schiff Regentag, seit 1973 in Neuseeland. Er ist architektonisch als Maler und Graphiker und als Ökologe tätig. Mit Leidenschaft verfolgt er sein Anliegen: Für ein Leben in Harmonie mit den Gesetzen der Natur. Während eines Besuches bei Philip Rosenthal in Selb kam Hundertwasser auf die Idee, eine der Porzellanfabriken nach seinem Sinne zu verändern. Die geraden Linien der Fassade wurden durch Keramikplatten in organischer Form belebt. Baummieter zogen ein. Zusammen mit Philip Rosenthal bepflanzte er den vormals so „ordentlich“ strukturierten Mitarbeiter Parkplatz mit Bäumen. Und zwar nicht in Reih und Glied, sondern wildwuchernd, wie die Natur, wenn sie nicht bevormundet wird. Genau das ist Hundertwassers leidenschaftliches Anliegen: Ein Leben mit und gemäss der Natur.