Eisenbahngüterverkehr in Selb – Motor der Porzellanindustrie
Mitte des 19. Jahrhunderts lag Selb noch abseits der großen Verkehrsströme. Erst mit dem Bau der Eisenbahnverbindung Hof–Eger im Jahr 1865 wurde die Region an das Bahnnetz angeschlossen. Diese Entwicklung hatte weitreichende Folgen für die Porzellanindustrie und den Eisenbahngüterverkehr, der sich zur Lebensader der Stadt entwickelte.
Erste Bahnlinie & wirtschaftlicher Aufschwung
Die Strecke zweigte in Oberkotzau von der Linie Bamberg–Hof ab und führte über Rehau und Schönwald nach Selb-Plössberg, dem bayerischen Grenzbahnhof. Von dort ging es weiter nach Asch, Franzensbad und schließlich nach Eger. Für Selb bedeutete dies einen gewaltigen Fortschritt: Rohstoffe wie Kohle und Kaolin konnten nun leichter herangeschafft und fertige Porzellanwaren effizienter exportiert werden.
Bereits 1857 hatte Lorenz Hutschenreuther die erste Porzellanfabrik in Selb gegründet. Mit dem Bahnanschluss konnten auch Rosenthal, Heinrich & Co., Krautheim und andere ihre Produkte schneller auf den Markt bringen. Viele Werke verfügten über eigene Lokomotiven und direkte Gleisanschlüsse.
Stichstrecke & Güteranschlüsse
Trotz der Vorteile blieb die Entfernung zum Bahnhof Selb-Plössberg für die Fabriken ein Problem. 1894 wurde daher eine Stichstrecke zum neuen Bahnhof Selb „Untere Stadt“ eröffnet. Dieser lag zentraler und war mit Lokschuppen und Güterhalle ausgestattet. Besonders Hutschenreuther finanzierte zudem ein eigenes Fabriksgleis zur Ludwigsmühle. Zahlreiche Werksanschlüsse sorgten für reges Güteraufkommen und machten Selb zu einem Knotenpunkt des Eisenbahngüterverkehrs.
Lokalbahn & Bahnhof Selb Stadt
Am 1. Mai 1914 wurde die Lokalbahn Selb–Holenbrunn eröffnet, die eine direkte Anbindung an die Hauptstrecke Hof–Marktredwitz–Regensburg schuf. Gleichzeitig entstand der repräsentative Bahnhof Selb Stadt, entworfen von Professor Fritz Klee. Mit umfangreichen Gleisanlagen und modernem Empfangsgebäude entwickelte er sich zum Herzstück des Güterverkehrs. Die Station verfügte über Ladegleise, Güterhalle, Waagen und Kräne – ein logistisches Zentrum für die Porzellanexporte.
Nachkriegszeit & Modernisierung
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bahnhof modernisiert. 1952 erhielt er elektrische Weichenantriebe und das erste Gleisbildstellwerk dieser Bauart in Deutschland. In den 1960er-Jahren entstanden zusätzliche Rolleranlagen zur Zustellung von Güterwagen an Betriebe wie Bohemia Cristall. Viele Porzellanfabriken wie Rosenthal und Hutschenreuther hatten direkte Anschlussgleise, sodass Rohstoffe und Fertigwaren problemlos verladen werden konnten.
Rückbau & Ende einer Ära
Mit dem Rückgang der Porzellanindustrie und der Stilllegung des Güterverkehrs zwischen Oberkotzau und Selb Stadt 1996 endete eine Ära. Viele Gleisanlagen wurden abgebaut, die großen Anschlussnetze der Fabriken verschwanden. Heute erinnert nur noch wenig an die einstigen Dimensionen des Eisenbahngüterverkehrs, der Selb über mehr als ein Jahrhundert geprägt hatte.
Der Modell- und Eisenbahnclub Selb/Rehau hat es sich zur Aufgabe gemacht, Teile des Bahnbetriebswerks und Stellwerks zu erhalten. Damit bleibt ein Stück Industrie- und Verkehrsgeschichte für kommende Generationen sichtbar.
Fazit
Der Eisenbahngüterverkehr machte Selb zu einem internationalen Zentrum der Porzellanindustrie. Vom ersten Anschluss 1865 über die Blütezeit mit Werksgleisen und Bahnhöfen bis zum Rückbau in den 1990er-Jahren war er Motor des wirtschaftlichen Erfolgs. Heute bleibt er ein bedeutendes Kapitel der Stadtgeschichte und ein Symbol für den Wandel von Industrie und Infrastruktur.
Die Entwicklung der Porzellanindustrie in Selb
Begünstigt durch den Bau der Bahnlinie Hof–Eger, die Selb 1865 einen ersten Bahnanschluss außerhalb der Stadt bei Selb-Plössberg und ab 1894 direkt in der Stadt brachte, folgte in kurzen Abständen die Gründung zahlreicher Porzellanfabriken. Diese Entwicklung verwandelte Selb in ein Zentrum der Porzellanherstellung in Bayern.
Gründungen der Porzellanfabriken
Zu den frühen Gründungen gehörten: Lorenz Hutschenreuther (1857), Jakob Zeidler (1866 in Selb-Plössberg), J. Rieber (1868–1921), Philip Rosenthal (1879 im Schloss Erkersreuth, ab 1887 in Selb), Christian Krautheim (1884), Paul Müller (1889), Franz Heinrich (1898), Jäger & Werner (1906, später Hutschenreuther Werk B), Gräf & Krippner (1912), Krautheim & Adalberg (1912/13), Zeidler & Purucker (1919), Gebr. Hoffmann (1920 in Erkersreuth) und die Oberfränkische Porzellanfabrik (1923, Ascher Straße).
Ebenfalls von Bedeutung war die 1904 gegründete Prüfanlage „Hochvolthaus“ der Rosenthal Isolatoren AG, die bis 1924 auf Spannungen von bis zu zwei Millionen Volt ausgebaut wurde.
Industrielles Wachstum & Beschäftigung
Um 1920 waren in Selb insgesamt 21 Firmen mit der Porzellanverarbeitung beschäftigt, davon stellten zwölf tatsächlich Porzellan her, während die übrigen Weißporzellan aufkauften und es dekorierten. Um die Jahrhundertwende brannten in Selb mehr als 100 mit Kohle befeuerte Rundöfen. Tagsüber stiegen mächtige Rauchsäulen auf, nachts leuchteten die „Feuerfüchse“ am Himmel und verrieten den Konkurrenten, wie viele Brände in den Fabriken liefen.
Die Industrialisierung ließ die Einwohnerzahl von rund 3.500 vor dem Stadtbrand von 1856 bis in die 1930er-Jahre auf etwa 14.000 anwachsen. Von ihnen arbeiteten rund 5.500 in der Porzellanherstellung – ein eindrucksvoller Beleg für die wirtschaftliche Bedeutung der Branche.
Selb-Plössberg & zweiter Ortskern
Als die Eisenbahnstrecke Hof–Eger gebaut wurde und der Bahnhof außerhalb der Stadt entstand, entwickelte sich dort ein zweiter Ortskern. 1866 gründete Jakob Zeidler in Selb-Plössberg seine Porzellanfabrik, die später von der Rosenthal AG übernommen wurde. Seit der Eröffnung der Lokalbahn 1894 führt dieser Stadtteil den Namen Selb-Plössberg.
Fabrikviertel & Ludwigsmühle
Um 1920 prägte das Fabrikviertel an der Oberen Wittelsbacher Straße das Stadtbild: Links die Firma Rosenthal, rechts Lorenz Hutschenreuther. Über den Brennhäusern stiegen die Rauchfahnen von mehr als 100 Rundöfen empor. Smog und Luftverschmutzung waren damals kein Thema – die Feuerfüchse galten eher als Zeichen von Produktivität.
Die Ludwigsmühle, südöstlich von Selb am Selbbach gelegen, wurde 1708 ursprünglich als Gerbermühle errichtet. Nach dem Stadtbrand 1856 kaufte Lorenz Hutschenreuther die Anlage und errichtete dort eine Porzellanfabrik mit Massenmühle. Sie entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Werke Bayerns. Heute erinnert die Riess-Chronik daran, dass die Ludwigsmühle einst die größte Porzellanfabrik Bayerns beherbergte.
Fazit
Der Aufstieg Selbs zur Porzellanstadt wurde durch den Eisenbahnanschluss, die Vielzahl an Unternehmensgründungen und die Innovationskraft von Unternehmern wie Hutschenreuther und Rosenthal möglich. Bis heute prägen diese historischen Wurzeln das Selbstverständnis und das kulturelle Erbe der Stadt.