Lorenz Hutschenreuther & der Selber Stadtbrand 1856
Fakten und Legenden: Wie der große Stadtbrand von Selb 1856 zur Gründung der Porzellanfabrik von Lorenz Hutschenreuther führte – und welche Spekulationen sich bis heute halten.
Der Brand von 1856
Am 18. März 1856 zerstörte ein verheerendes Feuer fast die gesamte Stadt Selb. Rund 221 Häuser und über 400 Nebengebäude gingen in Flammen auf. Über 3.000 Menschen wurden obdachlos. Offiziell galt als Brandursache die Unachtsamkeit einer Magd, die glühende Lohballen auf einen Misthaufen geworfen hatte – angefacht durch starken Wind breitete sich das Feuer rasend schnell aus.
Gründung der Porzellanfabrik 1857
Nur ein Jahr nach der Katastrophe erwarb Lorenz Hutschenreuther die Ludwigsmühle und gründete dort seine Porzellanfabrik. 1857 erhielt er die Konzession, im Dezember desselben Jahres kaufte er die Mühle für 15.900 Gulden. Bereits 1859 beschäftigte die Fabrik etwa 50 Arbeiter. Viele der zuvor arbeitslos gewordenen Weber fanden in der neuen Fabrik eine Anstellung – zunächst als Hilfskräfte, später als angelerntes Fachpersonal.
Vorteile für Hutschenreuther
Der Stadtbrand schuf eine paradoxe Situation: Während viele Selber Bürger alles verloren hatten, öffnete er für Hutschenreuther Chancen. Die Arbeitslosigkeit der Weber bedeutete plötzlich ein lokales Reservoir an Arbeitskräften, das es in Selb vorher nicht gegeben hatte. Ohne den Brand hätte er wahrscheinlich Fachkräfte aus Thüringen oder Böhmen anwerben müssen, wo die Porzellanproduktion bereits etabliert war.
Zudem machte der Brand Grundstücke und Immobilien verfügbar. Der Erwerb der Ludwigsmühle 1857 wird häufig als direktes Ergebnis dieser Umstände gesehen.
Legenden & Spekulationen
Bis heute gibt es in Selb die Spekulation, ob der Brand Hutschenreuther nicht sogar in die Karten gespielt wurde – oder ob er vielleicht selbst seine Hand im Spiel hatte. Ein direkter Beweis hierfür existiert nicht, und die Quellenlage spricht eindeutig von einem Unglücksfall. Dennoch: Dass der Brand ihm ein günstiges Umfeld für die Gründung seiner Fabrik bot, ist unbestreitbar.
Die Vorstellung, der Brand sei möglicherweise gezielt gelegt worden, ist historisch nicht belegt – gehört aber zur mündlichen Überlieferung und zur Mythologie rund um die Entstehung der Porzellanindustrie in Selb.
Bedeutung für Selb
Die Katastrophe von 1856 leitete indirekt den Aufstieg Selbs zur Porzellanstadt ein. Aus einer zerstörten Stadt mit arbeitslosen Webern wurde ein Zentrum der Porzellanproduktion. Hutschenreuthers schnelle Gründung gilt heute als Beginn der industriellen Tradition Selbs, die über Jahrzehnte hinweg Weltruhm erlangte.
Timeline – Stadtbrand & Fabrikgründung
- 1856 – Stadtbrand von Selb zerstört 221 Häuser, 400 Nebengebäude; 3.000 Menschen obdachlos
- 1857 – Lorenz Hutschenreuther erwirbt die Ludwigsmühle und gründet eine Porzellanfabrik
- 1859 – Rund 50 Arbeiter in der neuen Fabrik beschäftigt, viele davon ehemalige Weber
- Legende – Spekulationen über mögliche Brandstiftung durch Hutschenreuther (nicht belegt)