Porzellanindustrie Selb – Erzeugnisse (1930)
Ein zeitgenössischer Blick von Hermann Bohrer auf die Porzellanindustrie Selbs im Jahr 1930 – von Kunstfiguren bis zu elektrotechnischen Erzeugnissen.
Kunstporzellan
Neben all diesen praktischen Erzeugnissen unserer Industrie muss nun aber auch das Kunstporzellan genannt werden, welches vornehmlich die Firmen Rosenthal und Hutschenreuther herstellen und zwar war die Firma Rosenthal die erste Firma, die Kunstfiguren hergestellt hat. Ferdinand Liebermann, der Künstler, nach dessen Entwurf die ersten dieser Figuren gefertigt sind. Deutschlands größte neuere Meister Liebermann, Prof. Walter Schott, Caasmann, Aigner, Diller, Zügel, Heinrich Vogler, Worpwede, Prof. Paul Riebt, Julius Diez, Zumbusch, Jul. V. Gudbrandsen, Wenck, Prof. Paul Schliepstein haben seither für die Großfirmen gearbeitet. Gleichwohl arbeiteten die Firmen einen eigenen Stil heraus, und der Kenner kann heute wohl leicht eine Hutschenreuther Figur von der Rosenthal Plastik unterscheiden.
Elektrotechnisches Porzellan
In neuerer Zeit hat unsere Industrie sich vor allem auf die Herstellung elektrotechnischer Porzellane eingestellt. Wer die stetig zunehmende Entwicklung auf dem Gebiet der gesamten Elektrotechnik in all ihren Spezialzweigen – wie Telefonie, Telegraphie, Licht-, Kraft- und Radioübertragung bis zu den großen Strommaschinen von 120.000 Volt und noch höher – verfolgt, weiß zu ermessen, welch ungeheure Anforderungen an ein gutes, zuverlässiges Isoliermaterial gestellt werden. Als solches ist bis heute Porzellan von keinem anderen auch nur annähernd erreicht, weil es allen nur denkbaren Anforderungen in elektrischer, mechanischer und thermischer Hinsicht vollkommen entspricht.
Infolgedessen fertigen die Selber Fabriken durch ein gut geschultes Arbeiterpersonal unter technischer und wirtschaftlicher Leitung das Kleinmaterial für Hausinstallationen, Sicherungselemente, Sicherungsstöpsel, Schalter, Rollen, Klemmen, für Telegraphie, Telefonie und Radio, Niederspannungsisolatoren, ebenso wie Hochspannungsisolatoren für Hochspannungsleitungen und Großkraftwerke bis 150.000 Volt. In großen Prüffeldern, mit verfügbaren Spannungen bis zu 500.000 Volt Wechselstrom, in Anlagen für Gleichstromprüfungen, in chemischen Laboratorien werden diese elektrischen Artikel und das dazu verwendete Material einer steten Kontrolle unterzogen.
Wohlfahrtseinrichtungen
Die großen Fabriken haben natürlich auch ihre Wohlfahrtseinrichtungen getroffen. Es muss leider gesagt werden, dass in dieser Beziehung in Selb nicht das geleistet wurde, was an anderen Orten die Industrie nach dieser Seite geschaffen hat. Es mag wohl damit zusammenhängen, dass unsere größten Firmen Aktienunternehmungen sind und den Direktoren von Seiten der Aktionäre die Hände gebunden sind.
So wird es wohl überraschen, wenn man hört, dass es in einer Industriestadt wie Selb noch kein öffentliches Bad gibt, dass es noch nicht gelungen ist, eine große Säuglingskrippe zu errichten, dass für die Arbeitsinvaliden noch kein Altersheim vorhanden ist. Die Firma Hutschenreuther hat sich verdient gemacht dadurch, dass sie eine Wohnkolonie von einer Reihe angenehmer Wohnhäuser erbaute, die nichts mit Kasernenbauten gemein haben. Auch die Porzellanfabrik Rosenthal hat eine Reihe Arbeiter- und Beamtenhäuser errichtet, desgleichen Heinrich. Bei den Porzellanfabriken Hutschenreuther und Rosenthal sorgt je eine Arbeiter- und Angestelltenwohlfahrtskasse für Unterstützung invalider und bedürftiger Werksangehöriger. Franz Heinrich hat eine Wohlfahrtsstiftung für seine Arbeiter errichtet.
Stadtbild und Industrie
Der Stadt Selb geben die Porzellanfabriken ein eigenartiges Gepräge. Über der Stadt liegen meist die dicken Rauchschwaden. Des Nachts stehen über ihr die lodernden Kaminfeuer der Porzellanfabriken. Angerußt ist alles in der Stadt, von den größten Häusern bis zu den kleinsten Blättern im Garten. Von der gesamten Bevölkerung dienen wohl 80 Prozent dem Porzellan.
Wenn anfangs des Abschnittes von Industrien gesprochen wurde, die den Porzellanfabriken zu Hilfe kommen, so verstehen wir darunter die zwei Maschinenfabriken Gustav Netzsch und Heinrich Zeidler, die vornehmlich Porzellanmaschinen herstellen, oder die Holzwollfabriken und Kistenfabriken, das Isolatorenwerk Zollfrank in Erkersreuth, die Pappkartonagenfabrikation, Buchbinderei und Druckerei Franz Dietrich und die Kartonagenfabrik Pauler – lauter Betriebe, die in engstem Zusammenhang mit der Porzellanindustrie stehen und ihre Entstehung dieser Industrie verdanken.
Quelle
Chronik Hermann Bohrer, Selb 1930 – Teil V