Als Selb 1926 sein 500-jähriges Bestehen feierte, überschlug sich die Presse heimisch wie international in Lobeshymnen: Seit Jahrzehnten trage die Stadt zu Recht den Beinamen „Porzellanstadt“. Doch wie viel Substanz verbarg sich hinter diesen Schlagzeilen? Prof. Dr. Ernst Zeh, inzwischen leider verstorben, prägte einst den vielzitierten Satz:
„Selb mag kein Rothenburg, kein Nördlingen oder Dinkelsbühl sein. Doch bei einer Besonderheit nimmt es deutschland-, ja europaweit eine Spitzenstellung ein: Selb ist die Porzellanstadt!“
Mag man diesen Pathos teilen? Tatsächlich loderten in den Werken der Stadt 66 Hochöfen, deren Feuerzungen nachts den Himmel erhellten – ein beeindruckendes Schauspiel, das symbolisch für das Läuternde des Porzellans stehen sollte. Und doch rahmt der düstere Fichtelgebirgswald dieses Bild eher wie eine bedrohliche Festung denn als malerische Kulisse.
Vom Dorf zur Handelsmetropole – mit Not und Neubeginn
Trotz wechselvoller Historie besitzt Selb kaum noch sichtbare Zeugen seiner Vergangenheit: Ein verheerender Großbrand in der Mitte des 19. Jahrhunderts vernichtete weite Teile der Stadt und raubte dem Straßenbild jeden Schmuck. Ist es da verwunderlich, dass Besucher heute zuerst nüchterne Bürgerhäuser wahrnehmen?
Urkundlich tritt Selb erst im 12. Jahrhundert in Erscheinung, wahrscheinlich aus einer Siedlung nach der Völkerwanderung herausgewachsen. Die frühen Herren von Plauen, später die Forster, lieferten sich erbitterte Kämpfe mit Nürnbergs Burggrafen und der Stadt Eger – und verloren schließlich ihr Lehen. Vom Fürstentum Bayreuth bis zur preußischen Herrschaft 1792, französischen Besatzung 1806 und Rückkehr zu Bayern 1810: Selb schien oft Spielball fremder Interessen zu sein.
Kriege, Zerstörung, Wiederaufbau
Zerstörerische Einfälle der Husiten um 1430, das Grauen des Dreißigjährigen Krieges und letztlich der Brand von 1856 – über 600 Häuser lagen in Schutt und Asche, fast 3 000 Menschen verloren ihr Zuhause. Die Erinnerung daran wird bis heute an einer Gedenktafel an der Alten Apotheke wachgehalten.
Der Wiederaufbau fiel karg aus: Schmucklose Zweckbauten prägten fortan das Stadtbild. Doch gerade hier begann sich die Weiche zu stellen: Aus einem zuvor ländlich geprägten Ort wurde ein Zentrum industrieller Porzellanproduktion.
Die Geburt der Porzellanstadt
1814 begann in Hohenberg die Porzellanerzeugung durch Carolus Magnus Hutschenreuther – ein Thüringer, der Pfeifen- und Puppenköpfe fertigte. Doch erst 1857, nach dem großen Feuer, zog er nach Selb und errichtete hier seine Fabrik. War es der Zerstörungsschock, der den Unternehmergeist beflügelte?
In rascher Folge gründeten Jakob Zeidler (1864), Josef Rieber (1868), Philipp Rosenthal (1880), Christoph Krautheim (1884), Paul Müller (1890), Franz Heinrich (1896) und Adolf Gräf mit Friedrich Krippner (1906) ihre Manufakturen. Kleinste Anfänge wuchsen zu Großbetrieben heran – doch war das Wachstum kontrolliert oder rücksichtslos?
Boom und Bürgerschaft: Wachstum um jeden Preis?
Seit der ersten Manufaktur verzeichnete Selb nicht nur Einwohnerwachstum, sondern auch eine stetige Ausdehnung der Stadtgrenzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bewältigte man zwar geringere Zerstörungen als im Ersten, doch Kohle- und Kaolin-Mangel sowie die neue Randlage im Grenzgebiet stellten neue Hürden dar.
Trotzdem wuchs das Stadtbild: Schlachthof, Schulen, Krankenhausanbau, Altersheim, Sparkasse, Volksbank, Industrie-Hotel, Stadtwerke, Gewerkschaftsbund – alles wurde neu gebaut. Im Kern sorgten großzügige Ladenausbauten und neue Wohngebiete für frischen Wind. Doch hat dieser Bauboom auch Lebensqualität gebracht oder nur den Sog einer wachsenden Industrie verstärkt?
Verkehrsprobleme und ihre Lösung
Lange Zeit war Selb nur über zwei bescheidene Lokalbahnen und Feldwege erreichbar – kaum verwunderlich, dass man von „Verkehrskonzentration“ sprach. Heute verbindet die Strecke Hof–Rehau–Selb–Marktredwitz die Stadt mit dem Fernverkehr, und Buslinien führen nach Bayreuth und Waldsassen. Der Ausbau der Porzellanstraße (Selb–Marktredwitz) hat das Grenzstädtchen endlich ans überregionale Netz angeschlossen.
Diese Verbesserungen begrüßen Einwohner und Besucher gleichermaßen. Doch der Preis für die Anbindung war hoch: erhebliche Investitionen und Eingriffe in Wohn- und Umweltstruktur. War es das wert?
Fremdenverkehr – eine Randnotiz oder echte Chance?
Selb wirbt nicht mit Kurprominenz, sondern vor allem mit Geschäftsreisenden. Dennoch lockt die Porzellanstadt auch Künstler und Wissenschaftler an – und dient vielen als Ausgangspunkt für Ausflüge ins Fichtelgebirge. Mit knapp 8 000 Übernachtungen und 661 ausländischen Gästen (1957) steht Selb an der Spitze der oberfränkischen Industrieorte.
Doch bleibt die Frage: Ist Fremdenverkehr für Selb mehr als ein Nebengeschäft? Können die Hotels und Gasthöfe die Zahl der Besucher halten – oder ist die Stadt zu sehr auf Porzellan fokussiert, um als klassisches Ausflugsziel zu bestehen?
Fazit: Die Verwandlung von einem einfachen Weberdorf zur weltbekannten Porzellanstadt ist unbestritten. Doch hinter manchem Glanz verbirgt sich Zwang zum Wachstum, Wiederaufbau unter Druck und die fortwährende Suche nach Märkten und Infrastruktur. Ob Selb seine Identität zwischen Tradition und Modernisierung bewahrt hat, bleibt eine offene Frage.
Lesen vollständige Chronik Hermann Bohrer 1930
Quelle: Siebenstern Ausgabe Autor Adolf Krauß, Selb; 06.05.1958